Ursachen, Risikofaktoren, Folgen, Lösungsansätze und eigene Erfahrungen mit dem Hochstapler Phänomen
Viele Menschen leiden unter dem Impostor Syndrom. Das ist eine psychologische Problematik, die das Selbstwertgefühl und die Leistungsfähigkeit beeinträchtigen kann. Lass dich inspirieren und finde heraus, welche guten Seiten das Hochstapler Phänomen hat.
Sind meine bisherigen Erfolge meinem eigenen Verdienst zuzuordnen oder sind sie einfach nur ein Kartenhaus, bestehend aus glücklichen Zufällen? Wenn ich meine eigenen Leistungen mit denen der anderen vergleiche – kann es sein, dass hinter meiner Fassade insgeheim weniger steckt, als es mein äußerer Schein vermuten lässt?
Diese Fragestellung ist Grundlage für ein weit verbreitetes Phänomen.
70% erleben laut International Journal of Behavioral Science einmal im Leben Momente des Hochstapler Syndroms. (Sakulku, 2011)
Woher kommt der Begriff "Impostor"?
In einem wissenschaftlichen Papier von Pauline Rose Clance und Suzanne Ament Imes wurde der Begriff des "Impostor Phenomenon" im Jahr 1978 das erste Mal erwähnt (Clance & Imes, 1978). Ins Deutsche lässt sich dieser Begriff mit dem Wortlaut des Hochstapler Phänomens übersetzen: Die Angst, irgendwann bezüglich eigener Errungenschaften als Betrüger oder Betrügerin entlarvt zu werden – dessen Grundlage ist der strikte Glaube daran, dass persönliche Erfolge im Gegensatz zu denen der Anderen auf schlichtem Zufall basieren (Clance & Imes, 1978; Spektrum Akademischer Verlag, 2000).
Das Impostor Syndrom ist keine Krankheit
Das Impostor Phänomen ist in den Klassifikationssystemen des klinischen Sektors noch nicht als psychische Erkrankung aufgeführt. Noch ist die Menge an zur Verfügung stehender Fachliteratur unzureichend für eine professionelle Behandlung des Impostor Phänomens (Bravata et al., 2020).
Meine eigenen Erfahrungen mit dem Hochstapler Phänomen
Besonders in den letzten zwei Jahren meiner Zeit als Hochschulstudent habe ich die Symptome des Impostor Phänomens erleben dürfen. Sie waren beinahe meine täglichen Begleiter – besonders auch zu den Prüfungszeiten. Es kamen Gedanken in mir auf, dass ich all meinen Kommilitonen eigentlich unterlegen sei und es niemals ins damalige dritte Semester meines Studiums hätte schaffen dürfen.
Die Welt in meinem Kopf glich einem Minenfeld aus Zweifeln an meinen Fähigkeiten und negativen Zukunftsszenarien, bezogen auf eigenes Versagen.
Ein Teufelskreis entstand: Je mehr ich über diese Problematik nachdachte, desto stärker wurden die Blockaden in meinem Kopf – und umso stärker wurden auch meine Schuldgefühle.
Wer ist vom Hochstapler Phänomen betroffen?
Aber nicht nur in meiner Altersgruppe und meinem Tätigkeitsfeld kann eine solche Problematik auftreten. Erwerbstätige verschiedenster Branchen und Wirtschaftszweige können davon betroffen sein (Bravata et al., 2020; Neureiter & Traut-Mattausch, 2016). So kann ein qualifizierter Arzt oder eine Ärztin tief in sich selbst die Überzeugung tragen, nicht gut genug zu sein, um die Patienten und Patientinnen zu behandeln – und folglich wächst innerlich das einengende Gefühl, des in seinem Beruf geforderten verantwortungsvollen Umgangs nicht nachzukommen. Gedanken an die eigene Rücksichtslosigkeit hat möglicherweise auch eine Lehrerin oder ein Lehrer, die in ihrem Bereich regelmäßig mit Gedanken an die eigene Unzulänglichkeit konfrontiert sind. Selbst bei außerberuflichen Aktivitäten, wie im Freizeitsport, kann ein solches Phänomen die jeweils Betroffenen erheblich belasten. Zusammenfassend lässt sich also sagen, dass das Hochstapler Phänomen in verschiedenen Bereichen des Lebens anzutreffen ist.
Nicht nur junge Menschen, sondern auch Personen älteren Jahrgangs können davon betroffen sein – obwohl man aktuell noch davon ausgeht, dass dieses Phänomen bei jungen Personen im Durchschnitt häufiger auftritt (Bravata et al., 2020). Geschlechterbezogene Unterschiede sind nach heutigem Forschungsstand noch nicht eindeutig festzustellen. Ein Großteil der vergangenen Forschungsarbeiten bezog sich vorzugsweise auf weibliche Versuchspersonen (Bravata et al., 2020).
Hauptursache: die externe Zuschreibung
Der Mechanismus des Impostor Syndroms ist genauso vielfältig wie sein Erscheinungsbild. Hauptursache, so ging man damals und auch heute davon aus, ist die Tendenz der betroffenen Personen, eigene Leistungen und Erfolge mit externen Faktoren zu erklären (Clance & Imes, 1978; Ferrari & Thompson, 2006). Beispielsweise wäre das in meinem Fall der Gedanke, dass meine eigenen Leistungen und Noten der Klausuren mehr einer glücklichen Vorsehung geschuldet wären – und diesen Gedankengang kann ich bei mir selbst auch bestätigen. Externe Faktoren betreffen aber auch ein sehr weitläufiges Gebiet an Einflussgrößen. Ein Arzt oder eine Ärztin könnte sich somit Erfolgsfaktoren dadurch erklären, dass die wirklich schweren Fälle seinem Kollegen zugeschrieben wurden – aber es kann auch der Fall sein, wie beispielsweise Standortfaktoren.
Risikofaktoren und Folgen des Hochstapler Phänomens
In mehreren Studien fand man bereits heraus, dass ein niedriger Selbstwert eine förderliche Variable für die Entwicklung eines Impostor Syndroms ist (BYRNES & Lester, 1995). Hinzu kommen bereichsspezifische Faktoren: Im Studium kann es die überwältigende Versagensangst bezüglich anstehender Prüfungen sein – bei Berufstätigen steht tendenziell eher die Furcht vor Zurückweisung durch Arbeitskollegen und -kolleginnen aufgrund der eigenen Erfolge im Vordergrund (Neureiter & Traut-Mattausch, 2016). Besonders auch die eigene Vergangenheit kann eine Rolle spielen, so etwa der kulturelle Hintergrund und der Zugehörigkeit einer Minderheit. Weit verbreitet ist deshalb laut mehreren Studien das Impostor Phänomen unter afroamerikanischen, asiatischen und lateinamerikanischen College-Studenten und -studentinnen (Bravata et al., 2020).
Der Kontext des Individualismus
Meines Erachtens schafft der Individualismus der heutigen Gesellschaft Grenzen zwischen Personen und schürt besonders bei Menschen mit niedrigem Selbstwert die Gewohnheit des negativen Vergleichens mit den anderen.
Wer bin ich im Vergleich zu meinen Mitmenschen? Was macht mich aus?
Studienergebnisse deuten darauf hin, dass vom Impostor Syndrom betroffene Studierende u.a. Ängste aufweisen, die sich auf den Erhalt des eigenen sozialen Status beziehen (Ferrari & Thompson, 2006). Zudem wollen sie nach außen hin keine Unvollkommenheit zeigen (Ferrari & Thompson, 2006) – ein Perfektionismus, der besonders im sozialen Gefüge für Verschlossenheit und Selbstbezogenheit bei den Betroffenen sorgt. Ersteres, weil vermutlich die Angst besteht, sein gesamtes bzw. wahres Ich zu zeigen – und letzteres aufgrund der unaufhörlichen Achtsamkeit, bezogen auf eigenes womöglich fehlerhaftes Verhalten.
Leiden durch Leistungsstreben
Durch das aktive Streben nach Leistung leiden besonders auch Erwerbstätige mit diesem Syndrom an einem erhöhten Stresspegel, sie sind Burnout gefährdet und in ihrem Job über lange Zeit weniger leistungsfähig sowie weniger zufrieden. Ergebnisse aus Studien deuten darauf hin, dass sie in ihrer Fähigkeit eingeschränkt sind, ihr berufliches Potential voll zu entfalten (Bravata et al., 2020). Das Hochstapler Phänomen wirkt sich also auch negativ auf die eigene Karriereplanung und die eigenen Karrierebestrebungen aus (Neureiter & Traut-Mattausch, 2016). Die Motivation, in Situationen die Führung zu übernehmen, ist ebenfalls verringert (Neureiter & Traut-Mattausch, 2016). Darüber hinaus tragen sie wesentlich zur Entstehung von Burnout (bei Fachkräften in Gesundheitsberufen und anderen) bei (Bravata et al., 2020).
Lösungsansätze für externe Unterstützung
Am Ende all dieser Zustandsbeschreibungen stellt sich nun doch die Frage: Welche Behandlungen können im Gebiet des Impostor Phänomens angewendet werden? Zunächst will ich den oberen Punkt erneut anführen: Das Phänomen ist nicht in Klassifikationssystemen für psychische Krankheiten aufgeführt. Das bedeutet, dass etwaige Behandlungsmaßnahmen noch nicht gründlich genug erörtert wurden. Handlungsbedarf ist hier durchaus gegeben, denn das Impostor Syndrom geht häufig mit Depressionen und Angstzuständen einher und wird bei verschiedenen Arbeitnehmergruppen, darunter auch bei Klinikärzten und -ärztinnen, mit verminderter Arbeitsleistung, erhöhter Arbeitsunzufriedenheit und Burnout in Verbindung gebracht (Bravata et al., 2020). Das Vorhandensein eines solchen Syndroms korreliert außerdem stark mit bereits vorausgegangenen Suizidgedanken und -versuchen, sowie früheren Episoden einer depressiven Erkrankung (Bravata et al., 2020). Daher ist es zu empfehlen, dass Betroffene möglichst bald professionelle Hilfe aufsuchen, sollten sie Schwierigkeiten haben, die mit dem Syndrom einhergehenden Probleme zu lindern oder zu bewältigen.
Im Folgenden eine Zusammenstellung aus generellen Empfehlungen:
- Unvoreingenommenheit der Arbeitgeber*innen und Therapeut*innen hinsichtlich der Geschlechtereffekte auf die individuelle Prädisposition des Impostor Syndroms (Bravata et al., 2020)
- Berücksichtigung des Syndroms in Schulungsprogrammen und Karrierebildungsmaßnahmen durch Professor*innen und Arbeitgeber*innen (Bravata et al., 2020)
- Bereitstellung von syndromspezifischen Therapien und Resilienztrainings (Bravata et al., 2020)
- Evaluation von Interventionen durch anonymisierte Beurteilungen seitens der Arbeitnehmer*innen (Bravata et al., 2020)
Die gute Seite des Hochstapler Phänomens
Denken wir an dieses Phänomen, empfinden wir eher ein ein unwohles Gefühl. Wer möchte schon auffliegen? Doch laut einer neueren Studie von Basima Tewfik aus den USA zeigt, dass es auch eine gute Seite haben kann.
Die Menschen, die das Hochstapler Syndrom sehr stark kennen, sind anderen eher zugewandt. Sie nicken, halten mehr Augenkontakt. Sie gehen auf Punkte ein, die Kolleg*innen anbringen (Tewfik, 2022). Other focused orientation - wird dies in der Wissenschaft genannt - ist ein positiver Aspekt. Es ist also nicht alles schlecht.
Die Erklärung der Forscherin für dieses Verhalten: wir kompensieren etwas. Wir haben das Gefühl, wir können etwas nicht und strengen uns deshalb im sozialen Bereich doppelt an, um letztlich doch gemocht zu werden (Tewfik, 2022).
Persönliche Empfehlungen
Es hilft, die negativen Zustandsbeschreibungen der eigenen Gedanken hinzunehmen und ihnen eine Daseinsberechtigung zu erteilen – sich allerdings auch die Frage nach dem Warum hinter einem negativen Gedanken zu stellen:
- Wohin möchte ich, wenn ich das Problem erfolgreich bewältigt habe?
- Was würde ich fühlen?
- Und damit wäre für mich eine wichtige Frage beantwortet: „Wie möchte ich mich fühlen?“.
In der Folge ist es nun meine Aufgabe, zu lernen, aktiv diejenigen Gefühle in mir zu erzeugen, die sich mir durch die Beantwortung dieser Frage ergeben haben. Wenn ich also von selbstkritischen Gedanken beschäftigt bin, würde mir eine Anerkennung von außen kurzzeitig helfen. Jetzt ist es meine Aufgabe, dies für mich selbst zu lernen: Mich nach abgeschlossenen Aufgaben zu loben und konstruktiv mit mir selbst umzugehen – das würde mir sogar auch langfristig helfen.
In Situationen der gefühlten Unterlegenheit gegenüber anderen kann es hilfreich sein, genau diese Unterlegenheit wertzuschätzen und eine bewusste Freude über die Gelegenheit zu entwickeln, neue Dinge lernen zu dürfen.
Leider erkennen viele Menschen in dieser Situation die Grenzen der eigenen Lernfähigkeit nicht an und sind frustriert, dass sie in einem Bereich fähigkeitstechnisch stagnieren. Und auch wenn bereits das Maximum eigener Lernkapazität erreicht ist, dann ist es sicherlich nicht schädlich, diese Freude auch auf das Gegenüber auszuweiten und sich in diesem Sinne mit ihm und für ihn über seine eigenen Fähigkeiten zu freuen und sie anzuerkennen. Wenn einem das nicht möglich ist, bietet sich hier wieder eine Möglichkeit, zu lernen, genau diese Fähigkeit der Mitfreude zu erwerben.
Dieser Beitrag wurde veröffentlicht von Melanie Faltermeier, verfasst von Erik Hermsen.
Quellen:
Bravata, D. M., Watts, S. A., Keefer, A. L., Madhusudhan, D. K., Taylor, K. T., Clark, D. M., Nelson, R. S., Cokley, K. O., & Hagg, H. K. (2020). Prevalence, Predictors, and Treatment of Impostor Syndrome: A Systematic Review. Journal of General Internal Medicine, 35(4), 1252–1275. https://doi.org/10.1007/s11606-019-05364-1
BYRNES, K., & Lester, D. (1995). The Imposter Phenomenon in Teachers and Accountants. Psychological reports, 77, 350. https://doi.org/10.2466/pr0.1995.77.1.350
Clance, P. R., & Imes, S. A. (1978). THE IMPOSTOR PHENOMENON IN HIGH ACHIEVING WOMEN: DYNAMICS AND THERAPEUTIC INTERVENTION. 3(15). https://doi.org/10.1037/h0086006
Ferrari, J. R., & Thompson, T. (2006). Impostor fears: Links with self-presentational concerns and self-handicapping behaviours. Personality and Individual Differences, 40(2), 341–352. https://doi.org/10.1016/j.paid.2005.07.012
Neureiter, M., & Traut-Mattausch, E. (2016). An Inner Barrier to Career Development: Preconditions of the Impostor Phenomenon and Consequences for Career Development. Frontiers in Psychology, 7. https://www.frontiersin.org/articles/10.3389/fpsyg.2016.00048
Sakulku, J. (2011). The imposter phenomenon. International Journal of Behavioral Science. 2011, Vol. 6, No.1, 73-92
Spektrum Akademischer Verlag. (2000). Circadianer Rhythmus. https://www.spektrum.de/lexikon/neurowissenschaft/circadianer-rhythmus/2197
Tewfik, B. A. (2022). The Impostor Phenomenon Revisited: Examining the Relationship between Workplace Impostor Thoughts and Interpersonal Effectiveness at Work. Academy of Management Journal VOL. 65, NO. 3.
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