Telepressure: zwischen „immer erreichbar“ und „abgeschaltet“
- Melanie Faltermeier
- 12. Juni
- 4 Min. Lesezeit
Definition, Folgen, Maßnahmen und warum Erholung so wichtig ist
Teams, Slack, WhatsApp, E-Mail, Telefon, Zoom, Instagram, LinkedIn. Immer erreichbar. In unserer digitalisierten Arbeitswelt erleben viele das Phänomen der sogenannten Telepressure – den inneren Druck, stets auf berufliche Nachrichten zu reagieren. Dieses Gefühl, ständig verfügbar sein zu müssen, beeinträchtigt unsere Fähigkeit zur Erholung. Studien zeigen: Allein die Wahrnehmung dieser ständigen Erreichbarkeit schränkt die psychologische Abgrenzung vom Beruf stark ein (Hu et al., 2019; Santuzzi & Barber, 2018).

Was ist Telepressure?
Telepressure beschreibt eine psychologisch tiefgreifende Dynamik: den gefühlten Druck, schnell und jederzeit auf arbeitsbezogene Nachrichten (E-Mails, Chatnachrichten, Anrufe) zu reagieren – unabhängig von Tageszeit, Ort oder Kontext (Santuzzi & Barber, 2018).
Typische Anzeichen für Telepressure:
Sofortreaktions-Zwang: Das Gefühl, eine E-Mail oder Nachricht müsse sofort beantwortet werden. Auch abends oder am Wochenende.
Mentale Dauerverfügbarkeit: Auch ohne Nachrichteneingang bleibt das Gefühl präsent, erreichbar sein zu müssen.
Selbstüberforderung: Der Impuls entsteht oft aus inneren Überzeugungen („Ich darf niemanden warten lassen“, „Nur so bleibe ich professionell“), nicht durch äußeren Druck.
Studien zeigen: Besonders betroffen sind Beschäftigte ohne klar geregelte Kommunikationsrichtlinien und solche mit starker Identifikation mit der Arbeit (Hu et al., 2019).
Telepressure ist nicht auf Führungsebenen beschränkt – auch Auszubildende, Berufseinsteiger:innen und Teilzeitkräfte sind betroffen, insbesondere in digitalisierten Umgebungen ohne klar definierte Ruhezeiten (Barber & Santuzzi, 2015).
Telepressure und die Folgen
Telepressure wirkt schnell, nachhaltig und oft unbemerkt. Betroffene reagieren nicht nur schneller, sie denken auch ununterbrochen an offene Aufgaben, Rückmeldungen und Erwartungen.
Kurzfristige Folgen:
Erhöhte Anspannung – auch abends und am Wochenende
Reduzierte Konzentrationsfähigkeit im Arbeitsalltag
Störungen im Einschlafverhalten (Gedankenkreisen)
Langfristige Folgen:
Chronische Erschöpfung & Schlafmangel
Emotionale Gereiztheit & Rückzugstendenzen
Reduziertes Selbstwirksamkeitserleben („Ich schaffe nie wirklich Pause“)
Besonders gravierend: Telepressure senkt die Fähigkeit, in der Freizeit neue Energie aufzubauen – ein Kernfaktor für Arbeitszufriedenheit und Resilienz (Van Laethem et al., 2018).
Auf Organisationsebene:
Mehr Krankheitstage, besonders durch stressbedingte Beschwerden
Leistungsabfall durch kognitive Erschöpfung
Kultur des Misstrauens, wenn „Antwortzeiten“ unbewusst zur Bewertungskategorie werden
Warum Erholung so wichtig ist
Das Effort-Recovery-Modell (Meijman & Mulder, 1998) beschreibt, wie sich unser Körper und Geist nach Belastung regenerieren: Nur durch echte Unterbrechung von arbeitsbezogenen Anforderungen können sich physiologische Systeme zurück in den Erholungszustand bewegen.
Doch genau diese Unterbrechung gelingt bei Telepressure nicht:
Ständige gedankliche Verfügbarkeit hält das sympathische Nervensystem aktiviert. Vergleichbar mit einem Auto im Leerlauf, das trotzdem Sprit verbraucht.
Der sogenannte „psychologische Detachment“ – also das bewusste Abschalten von der Arbeit – wird verhindert (Sonnentag & Fritz, 2007).
Fehlende Erholung zeigt sich in Schlafstörungen, emotionaler Erschöpfung und kognitiver Ermüdung.
Langfristig steigt das Risiko für Burnout, depressive Symptome und psychosomatische Beschwerden (Derks et al., 2014; Hu et al., 2019).
Darum ist mentale Erholung kein Luxus, sondern eine Notwendigkeit. Individuell und betrieblich.
Maßnahmen für echte Erholung
a) Klare Regeln zur Erreichbarkeit einführen
Verbindliche „digitale Ruhezeiten“ z. B. zwischen 19:00–7:00 Uhr
Signatur-Vorlagen wie: „Ich lese Mails werktags zwischen 9–17 Uhr. Vielen Dank für Ihr Verständnis.“
Tool-Tipp: „Send Later“-Funktion aktiv nutzen. E-Mails planen statt nachts senden
b) Technische Maßnahmen nutzen
Betriebsweite Einführung von „Nicht-Stören-Zeiten“ in Kalender- oder Chat-Tools
Abschalten von Push-Benachrichtigungen
Eindeutige Kanäle für wirklich dringende Kommunikation
c) Mikropausen & Mini-Routinen etablieren
Mini-Interventionen wie Atempausen, Mobilitätseinheiten oder Reflexionsfragen
Tools wie „Pomodoro-Timer“ zur bewussten Arbeits- & Erholungsstruktur
Integration von Erholungswissen in Trainings und Schulungen
d) Reflexion & Führungskultur
Dialogrunden: „Wann empfindest du Druck, erreichbar zu sein?“
Führungskräfte als Vorbild: Nicht auf Nachrichten nach Feierabend reagieren
Regelmäßige Evaluation: Was funktioniert, was nicht?
Studien zeigen: Je klarer die Erwartungen kommuniziert und vorgelebt werden, desto besser gelingt Erholung im Team (Barber & Santuzzi, 2015).
Fazit
Telepressure ist ein leiser, aber wirkungsvoller Störfaktor im modernen Arbeitsleben. Es reicht nicht aus, E-Mails später zu beantworten. Wir müssen auch lernen, den inneren Druck zur sofortigen Reaktion zu reduzieren. Wer dauerhaft psychisch präsent bleibt, regeneriert nicht.
Die gute Nachricht: Mit klaren Regeln, technischer Unterstützung, Routinen und bewusster Führungskultur lässt sich echte digitale Erholung gestalten. Individuell und organisatorisch.
Dieser Beitrag wurde von Melanie Faltermeier verfasst und veröffentlicht.
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Quellen:
Barber, L. K., & Santuzzi, A. M. (2015). Please respond ASAP: Workplace telepressure and employee recovery. Journal of Occupational Health Psychology, 20(2), 172–189. https://psycnet.apa.org/doiLanding?doi=10.1037%2Fa0038278
Derks, D., van Mierlo, H., & Schmitz, E. B. (2014). Smartphone use after hours and work–home interference: The moderating role of social norms and employee work engagement. Journal of Managerial Psychology, 29(4), 384–400. https://www.emerald.com/insight/content/doi/10.1108/jmp-08-2012-0237/full/html
Hu, X., Grawitch, M. J., Barber, L. K., & Bernatzky, M. (2019). Disconnecting to detach: The role of impaired recovery in negative consequences of workplace telepressure. Journal of Work and Organizational Psychology, 35(1), 9–15. https://journals.copmadrid.org/jwop/art/jwop2019a2
Meijman, T. F., & Mulder, G. (1998). Psychological aspects of workload. In P. J. D. Drenth, H. Thierry & C. J. de Wolff (Eds.), Handbook of work and organizational psychology (2nd ed., Vol. 2, pp. 5–33). Psychology Press.
Santuzzi, A. M., & Barber, L. K. (2018). Workplace telepressure and the restoration of psychological detachment: The role of affect regulation strategies. Occupational Health Science, 2(1), 1–26. https://link.springer.com/article/10.1007/s41542-018-0022-8
Sonnentag, S., & Fritz, C. (2007). The Recovery Experience Questionnaire: Development and validation of a measure for assessing recuperation and unwinding from work. Journal of Occupational Health Psychology, 12(3), 204–221. https://psycnet.apa.org/doiLanding?doi=10.1037%2F1076-8998.12.3.204
Van Laethem, M., van Vianen, A. E. M., & Derks, D. (2018). Daily fluctuations in smartphone use, psychological detachment, and work engagement: The role of workplace telepressure. Psychologica Belgica, 58(1), 20–36. https://www.frontiersin.org/journals/psychology/articles/10.3389/fpsyg.2018.01808/full